Kennt Ihr, Lesender, die Legende vom Vergessenen Kaer? Natürlich kennt Ihr sie, wie jeder Bewohner Barsaives. Für mich und meine Gefährten ist sie aber mehr als nur eine Sage, sie ist ein Teil unseres Lebens geworden.
Wie es dazu kam, fragt Ihr? Nun, ich werde es Euch erzählen.
Die Ereignisse begannen, als meine Freunde und ich auf einem Luftschiff, gen Parlainth reisten. Wie auf alle, die in dieser Welt nach Abenteuern und Ruhm streben, übte die Vergessene Stadt auch auf uns eine geradezu magische Anziehungskraft aus. Es gibt kaum einen Helden, der nicht von wenigstens zwei oder drei Abenteuern erzählen kann, die er einst in den Ruinen der alten Katakomben, die die Stadt umgeben, erlebte.
Unsere Überfahrt verlief ruhig. Astrus, einer der beiden Echsenmänner in unserer Gruppe, verspürte schon immer den Wunsch, eines Tages sich einer Bande verwegener Segler anzuschließen und bis zu seinem Tode keinen Fuß mehr auf feste Erde zu setzen. Er ging den Matrosen zur Hand, und so verlangte der Kapitän nur einen Teil der Summe, die uns die Reise gekostet hätte. Nach sechs langen Tagen, die ich meist Bücher studierend in meiner Kabine verbrachte, erreichten wir Parlainth. Bei Jaspree, nie sah ich soviel Leben an einem Ort zugleich! Ich sehe mich auserstande, die Zahl der Bewohner Parlainths auch nur zu schätzen, aber laßt Euch sagen, Lesender, daß selbst auf den alljährlichen Fruchtbarkeitsfesten an der Lebenseiche weit weniger Gesichter zu sehen sind als in den Straßen und Alleen der Vergessenen Stadt. Wir kehrten alsbald in eine Taverne ein, unseren Hungen zu stillen und ein Quartier für die Nacht zu finden.
Zwar waren uns auf der Reise wohl Speis und Trank angeboten worden, doch waren die Segler allesamt Orks oder Trolle, die keine Kräuter und Gräser zu schätzen wissen, und ich würde eher elendiglich verhungern, als Fleisch zu essen, durch welches einmal lebendes Blut pulsierte.
Ihr könnt Euch vorstellen, wie ausgehungert ich war!
Sonst ist es zwar nie einfach für mich, Kontakt mit Fremden aufzunehmen
- gerade das niedere Volk spricht nicht gern mit den Elfen des Waldes -
aber der Wirt dieser Schenke war sehr freundlich und gesprächig. Während ich zufrieden auf einer Barsyami-Wurzel kaute, erzählte er uns von den vielen Geschichten, die sich um die Ruinen der Vergessenen Stadt ranken.
Meine Aufmerksamkeit wurde besonders von einer Legende geweckt, die berichtet, daß eine der unterirdischen Schutzburgen aus der dunklen Zeit noch unentdeckt nahe den Mauern dieser Stadt liegen solle. In diesem Kaer soll einst ein garstiger Tyrann gelebt haben, der Angst und Schrecken verbreitete und mit eiserner Faust regierte. Seine Gewaltherrschaft begründete sich auf seine Fähigkeit, ein wiederliches arkanes Wesen zu beschwören, welches auf seinen Befehl all die tötete, die sich ihm in den Weg zu stellen versuchten. Viele jungen Eheweiber wurden so zu Witwen, und viele Kindertränen wurden vergossen, bis der Tyrann endlich dem Alter erlag.
Unser Nekromant Andor Magnus und Omasu, der Magier aus Stein, der mit uns reist, hielten diese Sage für ein Schauermärchen von der Art, wie sie alte Mütterchen ihren Kindern vor dem Zubettgehen erzählen.
Sie prahlten davon, eie Expedition zu den vergessenen Silberminen der Zwergen unternehmen zu wollen, um die dortigen Schätze zu rauben. Wöhrend sie sich mit einer Bande wiederlicher Trolle betranken, machte ich mich mit Astrus, dem Echsenmanne, und mit dem Orkweib Yonca auf den Weg nach der Großen Bibliothek Parlainths, um unser Wissen über das Kaer zu erweitern.
Der Tag neigte sich schon seinem Ende zu; die edle Sonnenscheibe war schon lange hinter dem Zwielichtgipfel verschwunden, um sich erst am nächsten Morgen wieder in einem Meer von Rot über Barsaive zu erheben. Der Bibliothekar war bereits zur Ruhe gegangen (so seltsam es Euch auch erscheinen mag, Lesender: die Menschen arbeiten des Tags und schlafen des Nachts!), doch es gelang dem Echsengetier, den Hausdiener mit ein paar Silbermünzen zu bestechen, so daß wir trotzdessen Zutritt erlangten. (Die Menschen haben nicht einmal Ehre vor sich selbst! Für ein paar Silbergroschen würden sie ihre eigenen eigenen Gevatter verkaufen!) In der Bibliothek fanden wir zuhauf Schriftwerk über das Vergessene Kaer. Zwar waren sich die Pergamente und Bücher über die genaue Lage des Kaers uneinig, doch allen Schriften gemein war, daß sie das Gemäuer im Süden vermuteten, in der Nähe der Hügelkette bei Haven.
Auch erzählten sie von magischen Artefakten, die vermittels Blutmagie geschaffen wurden, den Dämonen zu bannen. Es hätte jedoch noch keine Hand vermocht, eine dieser Waffen gegen das astrale Untier zu richten.
Als wir zu dem Gasthof zurückkehrten, waren der Schwarze Hexer und der Obsidianer bereits auf ihre Quartieren gegangen. Da Astrus sein Zimmer mit Andor teilte, mußte ich im Raume des Orkweibs die Nacht verbringen.
Ihr fragt, wie ich dies ausgehalten habe, Lesender? Nun, auch wenn Yonca gräßlicher stinkt als ein verfaulendes Tier; der Gedanke, in den Gassen Parlainths, zwischen all dem Diebesgesindel, die Nacht zu verbrigen, verschloß mir die Nase und schenkte mir einen tiefen Schlaf, aus dem ich erst am späten Morgen erwachte.
Als wir uns wieder im Hauptraum der Taverne trafen, um unsere Pläne für die nächsten Tage zu schnmieden, wurde bald klar, daß in unserer Gruppe Uneinigkeit darüber herrschte, wohin wir unsere Schritte lenken sollten. Über eine Stunde wurde mit müßigem Gezänk verbracht, was mir bald zuwieder wurde. Ich begab mich zum Tempel der Jaspree, um vor den heiligen Schrein zu pilgern, zu beten und vor dem Schrein ein kleines Bäumchen zu pflanzen, wie es jeder Wallfahrender zu tun pflegt. Ich wollte den Hüter des Lebens darum bitten, daß er mich in diesen Stunden leiten möge. Ich war gerade dabei, die letzten Mantras eines Fürbittgebetes zu sprechen, als ich plötzlich ein Gefühl der völligen Wärme und Ruhe empfand. Vor meinen geschlossenen Augen erschien ein Wesen, daß den Oberkörper eines stämmigen Mannes, aber den Unterkörper eines Pferdes besaß. Ohne zu wissen warum war mir klar, daß ich vor meinem Herren Jaspree stand. Er sprach in einer weichen Stimme zu mir. Ich erfuhr, daß es mir und meinen Freunden vorbestimmt sei, in den Hügeln bei Haven den Eingang zu dem Vergessenen Kaer zu finden, den Dämonen zu beschwören und mit dem Schwert der Läuterung zu schlagen, um die Seelen derer zu rächen, die durch seine Hand starben. Die Vision verschwand so schnell, wie sie gekommen war, und ich öffnete meine Augen. Ich war mir nicht sicher, ob ich mir nicht nur alles einbildet hatte; ob Weihrauch und Myrrhe mir nicht die Sinne verdreht hatten, doch dann fiel mein Blick, auf den Baum, den ich gepflanzt hatte. Aus dem kleinen Setzling war binnen Minuten ein mächtiger Baum geworden, dessen Stamm selbst zwei Männer kaum umfassen könnten. Seine Rinde glänzte silbern, und seine Blätter waren wie Kristallglas. Nachdem ich ehrfürchtige Dankgebete an Jaspree gesendet hatte, ging ich zurück zu meinen Gefährten.
Ich bin mir sicher, daß sie mir nicht wirklich glaubten, was ich ihnen erzählte; aber sie waren wohl dennoch froh, endlich zu einer Entscheidung gekommen zu sein, und so verließen wir noch am selben Mittag Parlainth.
In den Hügeln bei Haven angekommen, machten wir uns auf die Suche nach dem Eingang des Kaers. Wir wußten, daß es nicht leicht sein würde, etwas zu finden, was seit Generationen vergeblich gesucht wird, aber wir vertrauten auf die Passionen, und auch diesmal war uns das Schicksal wohlgesonnen: Auf einem der Hügel stolperte Astrus über einen Stein, der aus dem Boden ragte, und fiel der Länge nach hin.
Auf eben diesem Stein entdeckten wir seltsame Schriftzeichen, und Andor Magnus war in der Lage, sie zu deuten. Er erkannte den Stein als eine Art Grenzmarkierung, und nach kurzer Suche fanden wir auf anderen Hügelkuppen weitere Steine ähnlicher Art, die anscheinend kreisförmig um einen großen Hügel in der Mitte angeordnet waren. Äußerlich war diesem Hügel nichts anzumerken, doch ein Blick in die astrale Ebene offenbarte einen Eingang, der von einer Illusion verborgen wurde.
Wir ließen uns in einen unterirdischen Gang hinab, und nach wenigen Minuten erreichten wir ein Plateau, von dem aus sich ein überwältigender Anblick bot: Wir befanden uns etliche Bäume hoch über den Ruinen einer Stadt - nein, eher einer Zitadelle, denn ich konnte einen großen, äußeren Befestigungsring ausmachen. Wohnhäuser waren nur im Inneren der Stadt zu erkennen, hinter einer zweiten, etwas niedrigeren Mauer. Den Mittelpunkt der Stadt bildete zweifellos ein Tempel, dessen mächtige Säulen selbst von dem Plateau aus gut zu sehen waren.
Die ganze Höhle war von einem seltsamen Glühen erleuchtet, daß von überall zugleich zu kommen schien, und in der Luft lag der Geruch von Tod und Verzweiflung. Als wir zu der Stadt hinabstiegen, kamen wir überein, daß wir als erstes die magischen Artefakte ausfindig machen mußten, um gegen den Dämonen bestehen zu können - Vorrausgesetzt, daß diese Artefakte wirklich existierten!. Um mit unserer Such schneller voranzukommen, teilten wir uns in drei Gruppen.
Natürlich war ich derjenige, welcher mit dem Orkweib zusammen durch die Straßen streifen durfte!
Die Häuser waren allesamt schon am Zerfallen, und fingerdicke Staubschichten zeugten davon, daß schon seit langer Zeit jedes Leben in diesem Kaer verblaßt war. Als wir uns nach einigen Stunden trafen, hatten Yonca und ich nicht viel zu berichten: Außer ein paar Silbermünzen hatten wir nichts wertvolles in den Ruinen gefunden. Omasu und Astrus war es nicht anders ergangen, aber Andor hatte eine interessante Entdeckung gemacht: In einem alten Haus hatte er ein Tagebuch gefunden, daß offenbar einem der tapferen Männer gehört hatte, die dem Wiederstand gegen den Tyrannen angehört hatten. Darin war zu lesen, daß die Artefakte in einem geheimen Keller unter dem Magistratshaus verborgen seien. Leider hatte es Andor nicht vermocht, den geheimen Eingang ausfindig zu machen. Gemeinsam begaben wir uns zu dem Gebäude, und nach kurzer Suche entdeckten wir in der Kaminwand eine Vertiefung, die wie eine Erdmünze aussah. Es war offensichtlich, daß ein Mechnismus auszulösen sei, wenn man hier eine Münze einsetzte; aberAstrus, der als einziger von uns Elementarmünzen besaß, wollte keine entbehren. Daraufhin entbrannte (wie schon so oft in den letzten Tagen) ein heftiger Streit zwischen Astrus, Omasu und Andor. Ich weiß nicht, wie Ihr dies seht, Lesender, aber ich halte es für sinnlos, sich um eine Münze zu streiten. Warum streben überhaupt soviele Völker nach Reichtum, wenn sie ihr Vermögen ja doch nicht mit in die Ewige Ebene nehmen können? Aber ich schweife ab!
Zwar verfügt Astrus zweifellos über einen starken Willen, aber Omasus verfügt über die stärkeren Arme. Ein kurzer Faustschlag genügte, um das Echsenvieh zum Schweigen zu bringen, und wir legten eine Münze in die Vertiefung. Der Kamin glitt zur Seite, und dahinter sahen wir einen schmalen Gang. Er führte in ein kleines Kellergewölbe, und hinter einer weiteren Tür mit einem ähnlichen Schloß befand sich ein Raum, in der mehr magische Gegenstände gelagert waren, als wir je auf einem Haufen gesehen hatten. Diese Waffenkammer war zweifellos für eine größere Gruppe als die unsere vorgesehen.
Von allen Stücken war eine schimmernde Ritterrüstung, die in der Mitte des Raumes auf einem Podest lag, besonders auffällig. Am Gürtel des Panzers war ein Schwert angebracht, wie ich noch nie zuvor eines gesehen hatte: Leuchtend, und über und über mit seltsamen Runen beritzt. Das Orkweib entdeckte ein Buch, in welchem die einzelnen Artefakte in diesem Raum auflistet waren; und es war anscheinend vom selben Manne geschrieben worden, aus dessen Feder auch das genannte Tagebuch stammte. Die Schrift wies das prachtvolle Schwert als die Klinge der Läuterung aus, die geschaffen wurde, um mit einem einzigen Streich einen Dämonen zu töten. Mich schaudert noch heute, wenn ich daran denke, wieviele Menschen ihr Blut geopfert haben müssen, um diese Waffe zu formen.
Nachdem wir uns alle ausreichend mit Waffen und Rüstungen versorgt hatten - Yonca erhielt das Schwert der Läuterung - machten wir uns auf den Weg zum Tempel, da dies mit großer Wahrscheinlichkeit der Ort war, an dem der Tyrann einst den Dämon beschwor. Wir brauchten nicht lange zu suchen: Auf einem Podium liegend fanden wir ein Pergament, das offensichtlich die erforderliche Beschwörungsformel barg. Ich glaube, ich war nicht einmal besonders aufgeregt, als Andor begann, die Mantras zu rezitieren. Ich betete und legte mein Leben in die Hände Jasprees, und hoffte, daß er auch nicht in dieser tiefen Unterwelt sein Auge von mir gewendet hatte. Dann ging alles sehr schnell: Die Echse schrie vor Schmerz auf, als sie rohe Magie zu mächtigen Fäden webte. Vor uns erschien in einer dunklen Wolke und von Blitzen begleitet ein gigantisches Wesen, garstiger und furchterregender als meine schlimmsten Alpträume. In keiner der Sprachen, die ich beherrsche, kenne ich ein Wort, mit dem man dieses Wesen beschreiben könnte. Der Dämon, aus seinem Jahrhunderte dauernden Schlaf geweckt, stieß einen markerschütternden Schrei aus; doch bevor er einen von uns mit seinen Klauen packen konnte, holte Yonca mit der Klinge der Läuterung weit aus und führte einen gewaltigen Schlag gegen das Untier. Mir war, als könnte ich die Seelen all der unschuldigen Opfer des Dämonen vor Genugtuung laut aufschreien hören, als der Stahl die Haut des Dämonen durchtrennte.
Der Hieb spaltete die Brust des Monsters in zwei Teile, und als der Körper des Höllenwesens zerbarst, spürte ich eine ungeheuere Menge an roher Magie frei werden, die meine Haut versengte und mir ungeheuerliche Schmerzen bereitete. Durch den Tränenvorhang vor meinen Augen sah ich, daß es meinen Gefährten nicht anders erging. Dann wurde alles schwarz um mich.
Ich erwachte erst wieder aus meiner Ohnmacht, als Omasu mich heftig an der Schulter rüttelte. Mein erster Blick galt meinen Kameraden, doch niemand schien ernsthaft verletzt zu sein. Obwohl die gigantische Welle ungebremster magischer Energien fast die ganze Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte, so hatten uns die Artefakte vor dem sicheren Tod bewahrt.
Leider waren die meisten dadurch unbrachbar geworden; der Kettenpanzer hatte sein Leuchten verloren und das Schwert der Läuterung war zerbrochen.
Wir verließen das Kaer so schnell wir konnten, und kaum war der letzte unserer Gruppe wieder ans Tageslicht getreten, als die Erde zu erbeben begann. Unter lautem Getöse stürzte die Höhle ein und begrub die letzten Reste des Kaers unter sich.
Die Legende vom Vergessenen Kaer wird auch heute ncoh den Kinden beim Zubettgehen erzählt, doch seit diesem Tage endet das Märchen mit unseren Taten. Die Vernichtung des Dämonen hat uns weit über die Mauern Parlainths hinaus bekannt gemacht, und die verbliebenen magischen Artefakte werden uns gute Dienste leisten.
Und in einem bin ich mir ganz sicher:
Das Abenteuer im Vergessenen Kaer ist sicher nicht das letzte gewesen, welches wir zusammen erleben werden!
aufgeschrieben von
Kih'-Ta Al Sa-la,
Magister aus dem Hause der Sa-la,
im Jahre eintausenfünfhundertundelf
nach der Gründung Throals.
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